Meine Tochter und mein Sohn streiten sich, es fließen Tränen. Wir sind alle 3 in der Küche. Während der eine mit der Spielkasse am Küchentisch vergnügt Einkaufen spielt, nimmt die andere plötzlich die Kasse weg. Mein Sohn wird wütend und traurig, kommt zu mir und erzählt von der weggenommenen Kasse, die es erst kürzlich zum Geburtstag gab. Meine Tochter bedauert, dass ihr Bruder sie geschenkt bekommen hat und recht häufig alleine damit spielen will. Sie wollte also auch mal Geld kassieren und ohne das befürchtete Nein einfach damit spielen. Die Situation kann aufgelöst werden, beide bestätigen den Ablauf, Tränen trocknen und die Kasse wird wieder zum Einkaufen benutzt. Ich habe mich auf der Grundlage der Gewaltfreien Kommunikation der 4 Schritte bedient und den Streit begleitet.
Zahlen, Daten, Fakten
Als erster Schritt in der GFK gilt es eine Beobachtung mitzuteilen. Dabei wird oft der Vergleich mit einer Kamera oder einer Drohne gebracht, um zu verdeutlichen, was eine Beobachtung von einer Bewertung unterscheidet. Nur das, was die Kamera als Bild oder Geräusch aufzeichnen würde, ist Teil der Beobachtung. Manche nutzen gern das Kürzel ZDF- Zahlen, Daten, Fakten. Alle Gedanken, Gefühle, Interpretationen, Vergleiche oder Urteile sind Teil der Bewertung. Das bietet erstmal einen guten Anhaltspunkt, um in einer Streitsituation etwas Klarheit zu erhalten. Anstatt zu fragen: „Was ist (denn nun schon wieder) passiert?“, frage ich danach, was der einzelne jeweils gehört oder gesehen hat. Dabei versuche ich so sachlich wie möglich zu sammeln, was wie in welcher Reihenfolge zu beobachten und zu hören war. (Der Vollständigkeit halber seien noch die anderen Schritte genannt, auch wenn es mir heute nur um den ersten geht. Im zweiten Schritt benenne ich die Gefühle der Beteiligten, im dritten Schritt geht es um die Bedürfnisse. Zu guter Letzt kann noch eine Bitte erfolgen.)
Ein paar Stunden nach oben beschriebener Situation auf dem Weg zum Abend-Ritual sucht meine Tochter das Gespräch. Sie schildert mir ausführlich, wie sie die Situation erlebt hat und auf einmal wird auf Grundlage derselben Situation eine ganz andere Interpretation möglich, obwohl sie mir fast die gleiche Beobachtung schildert. Aus Sorge, dass an der Spielkasse etwas kaputt geht, weil mit einem Auto darauf geklopft wurde, nahm sie die Kasse weg. Sie schließt ihren (detaillierten!) Erlebnisbericht mit großer Erleichterung ab und sagt: „Mama, jetzt ist endlich das komische Gefühl im Bauch weg.“ Ich bin platt. Nicht nur, weil sie es schafft, das in Worte zu fassen, sondern auch, weil sie so offen ist und in Verbindung gehen will.
Ich bin auch platt, weil mir 2 riesengroße Tomaten von den Augen fallen: Die erste Tomate ist meine eigene Brille, mit der ich die Situation gesehen habe. Mit meiner Erwartungshaltung, dass sie traurig ist, weil sie schon öfter mit der Kasse spielen wollte und nicht konnte, war für mich die Situation klar. Ich konnte sie gar nicht anders erleben. Damit habe ich auch meiner Tochter keinen Raum gegeben, eine andere Interpretation zu ermöglichen und ich habe eben nicht absichtslos empathisch reagiert, sondern als Doppelbotschaft meiner Tochter mitgeteilt: „Du hast sie weggenommen, du bist schuld, dass dein Bruder traurig ist!“ Ihre Wahrnehmung hatte keinen Platz.
Konstruktivismus at its best
Die zweite Tomate ist ganz grundsätzlicher Natur. Eine Beobachtung kann gar nicht objektiv sein, denn es kommt auf die Perspektive an. Natürlich kann ich mir Gesehenes und Gehörtes nennen lassen, aber was, wenn ich einen anderen Ausschnitt wahrnehme als mein Gegenüber? Wenn meine Wahrheit eine andere ist? Dann habe ich Konstruktivismus at its best. Ich denke dabei nicht nur an meine Vorlesung im Studium zu Lerntheorien, sondern auch an einen kürzlich besuchten Workshop zu The Work von Byron Katie.
Was heißt das jetzt für die GFK? Ist der erste Schritt, eine Beobachtung zu teilen, also gar unmöglich? Schließen sich Konstruktivismus und GFK aus? Kann ein Streit daran scheitern, dass zwei Menschen unterschiedliche Beobachtungen gemacht haben?
Ja und Nein. Wenn beide darauf bestehen, dass ihre Wahrheit die einzig richtige sein kann, dann wird es tatsächlich schwierig, über den ersten Schritt hinaus in Verbindung zu kommen. Ich kann mir dann die Frage stellen, worum es mir eigentlich geht. Will ich den anderen von meiner Sicht auf Biegen und Brechen überzeugen oder gar verändern oder will ich in Beziehung treten? Bin ich offen für die andere Sicht oder brauche ich eigentlich gerade etwas ganz anderes? Braucht es einen neuen Anlauf zu einem späteren Zeitpunkt?
Wenn es mir jedoch darum geht, mich mit dem anderen zu verbinden und wir uns offen auf Augenhöhe begegnen können, dann ist eine unterschiedliche Wahrnehmung keinesfalls hinderlich. Vielmehr ist es eine Einladung, mal die Brille des anderen aufzusetzen und die eigene abzunehmen. In letzter Zeit habe ich gemerkt, wie oft es schon reicht, erstmal absichtslos Beobachtungen abzugleichen, um zu einem wertschätzenden Miteinander zu finden. Dann entzieht sich meiner Bewertung auf einmal die Grundlage. Bestätigt hat sich das diese Woche in der Multiplikator*innenausbildung zum Giraffentraum bei Frank Gaschler. Er zeigt in seinem Mediationsverfahren, wie mit unterschiedlichen Beobachtungen konstruktiv und klar umgegangen werden kann. Und er hat mir auch nochmal ganz deutlich aufgezeigt, wie sehr unsere Beobachtungen und daraus folgende Reaktionen von unseren Bewertungen abhängen.
Und wie begleite ich nun ganz konkret Streit zwischen meinen Kindern oder in Kita, Schule und Co.? Das zeige ich euch unter anderem in meinen Abendkursen