Ich gehe sehr gern zum Abiball. Es bietet die Gelegenheit mit Kolleg*innen entspannt zu essen, anzustoßen, zu lachen und zu tanzen- wenn auch manchmal nur zu DJ Youtube. Meist ist es ein Abend, an dem sich unterhaltsam und fröhlich erinnert, den Lernenden das Du angeboten wird und Lehrende, Eltern und junge Erwachsene sich oft so ein letztes Mal begegnen. Diese Begegnungen sind mitunter von einer besonderen Nähe, Dankbarkeit und Wertschätzung geprägt und haben Gänsehautpotenzial. Es gibt auch bei mir jedes Mal den Moment, in dem ich traurig bin, weil der Abiball auch ein Abschied von der gemeinsamen Zeit ist. Dieser Wechsel von Leichtigkeit, Fröhlichkeit und Traurigkeit ist intensiv und ich bedaure, dass es dieses Jahr keinen solchen Abschluss geben konnte.
Minutenzählen, Vokabeltests und Co.
An einem dieser Abende kam Marie auf mich zu, die ich in Klasse 9 und 10 im Französischunterricht begleitete. Unsere Zusammenarbeit war zu Beginn von häufigen Konflikten geprägt und ich konnte meinen Umgang mit Unterrichtsstörungen ausgiebig üben. Von Gewaltfreier Kommunikation (GFK), systemischen Ansätzen oder dem Konzept der Gleichwürdigkeit bzw. der inneren Haltung hatte ich noch keine Ahnung. Ich griff hilflos auf erlernte und empfohlene Handlungsoptionen zurück und spielte mein Repertoire ab: Minuten notieren, die gestört werden und dann in die Pause hinein nachholen (wie anstrengend, selbst den Überblick zu behalten und sich und alle anderen mitzubestrafen), Leistungskontrollen (leider mit dem Ergebnis, dass die Schülerin nie schlechter als die Note 2 abschnitt und ich Mehrarbeit hatte) oder Ermahnungen inkl. ironisch-spitz-herablassender Kommentare. Ich war wütend, ohnmächtig und sehr unzufrieden, weil alle meine Strategien nicht fruchteten.
Beziehung statt Erziehung
Am schlimmsten war jedoch das eigene Unwohlsein, dass ich Maßnahmen ergriff, bei denen sich mein Bauchgefühl umdrehte, weil ich übergriffig und respektlos meine eigene Integrität und die der Lernenden verletzte. Eigentlich wusste ich doch, dass ich die fachliche Leistung in Französisch und das irritierende Verhalten nicht durch Noten miteinander koppeln kann, weil das eine mit dem anderen nichts zu tun hat. Auch durch mein behavioristisches Konditionieren würde ich nichts nachhaltig ändern können. Ich weiß nicht mehr, woher der Impuls kam, aber ich entschied mich eines Tages für ein Gespräch unter 4 Augen (Endlich!). In dem Gespräch nahm ich mich zurück und fragte Marie, wie sie die Situation erlebe und habe ihr dann erzählt, wie es mir dabei geht. Wahrscheinlich war es unsere erste wirkliche Begegnung als Menschen. Es kamen noch äußere Faktoren wie ein Auslandsaufenthalt dazu, sodass sich unser Verhältnis irgendwie entspannte.
Kommen wir zurück zum Abiball. Während ich also gerade so zwischen Sekt und Häppchen herumstehe, spricht mich Marie an und sagt: „Frau Giersch, können Sie sich noch an unser Gespräch in der 9.Klasse erinnern? Sie haben mir eine Frage, gestellt, die ich nie vergessen werde. Ich konnte Ihnen damals nicht antworten, weil ich darüber noch nie nachgedacht hatte und mir bis dahin keiner diese Frage gestellt hatte. Aber sie hat etwas in mir verändert und ich bin Ihnen dankbar dafür. Sie haben mich gefragt, was ich brauche, um im Unterricht mitzumachen.“ Da war er, der Gänsehautmoment.
Versöhnung und Lernen statt Scham
In der Zwischenzeit habe ich mich auf den Weg gemacht, Alternativen zu suchen, die nachhaltig sind und bei denen mein Bauchgefühl keinen Krampfanfall signalisiert. Ich landete dabei sowohl bei Jesper Juul als auch bei der GFK und erfuhr, dass authentische, wertschätzende und klare Beziehungen eine Voraussetzung für nachhaltige Lernprozesse sind. Dabei setzte ich mich immer wieder mit meinen Glaubenssätzen und meiner Haltung auseinander. Und es ist natürlich nicht so, dass ich jeden Konflikt mit allergrößter Leichtigkeit löse. Vielmehr bin ich immer noch auf dem Weg und versuche wahrzunehmen, wie es mir in bestimmten Momenten geht und warum ich noch nicht so handeln kann, wie ich es mir wünsche. Mittlerweile kann ich auch versöhnlich auf meine Versuche blicken, mit Unterrichtsstörungen umzugehen.
Wenn dich das neugierig macht und du gern mehr über Möglichkeiten der nachhaltigen Beziehungsarbeit im Alltag mit Kindern und Jugendlichen erfahren möchtest, lade ich dich herzlich zu folgenden Seminaren ein:
„Das will ich aber überhört haben!“ -Einführungsseminar Gewaltfreie Kommunikation im Schulalltag
„Sei nicht so kindisch!“- Abendkurs Gewaltfreie Kommunikation mit Kindern