„Gelassen durch die Jahre 5-10“- Bedürfnisorientierte Elternschaft ganz konkret

„Gelassen durch die Jahre 5-10“- Bedürfnisorientierte Elternschaft ganz konkret

Kennst du das, wenn du ein Sachbuch liest und den Eindruck hast, dass du das perfekte Buch genau zum richtigen Zeitpunkt liest und du gerne den Autor:innen bei jeder zweiten Seite danken möchtest, weil sie genau die Fragen aufgreifen, die dich gerade beschäftigen? So ging es mir bei meiner Urlaubslektüre des 2. Buches von Danielle Graf und Katja Seide.[1]

In den letzten Wochen hat unsere Tochter, bald 7, nicht nur ihren ersten Milchzahn verloren, sondern auch allerlei Entwicklungsschritte durchlebt, die sich eins zu eins im Buch wiederfinden. Sei es der vermehrte Wunsch nach mehr Autonomie (selbstständig das Brötchenfrühstück vorbereiten inklusive Gang zum Bäcker mit dem kleinen Bruder, alleine mit dem Fahrrad von der Kita nach Hause fahren etc.) oder das heimliche Mitnehmen von Spielzeug anderer Kinder: Im Buch von Danielle Graf und Katja Seide habe ich nicht nur interessante neurowissenschaftliche Informationen, sondern praktische Anregungen und ermutigende Impulse zu alltäglichen Situationen erhalten. Gleichzeitig konnte ich für meine eigenen Seminare und meine eigene Persönlichkeitsentwicklung wichtige Erkenntnisse mitnehmen. (Habe ich eigentlich schon ;Danke‘ gesagt?)

Erlernte Hilflosigkeit

Es kommt immer wieder zu Konfliktsituationen, in denen ich mich als ohnmächtig, hilflos und wie erstarrt erlebe. Oft merke ich erst einige Zeit später, dass es zu einer Grenzüberschreitung kam, die ich selbst nicht klar markiert habe.  Danach bleibt mitunter ein Gefühl der Beschämung und dass ich mein Bedürfnis nach Integrität verletzt habe. Dann tue ich Dinge, die ich eigentlich nicht will oder trage etwas mit, das ich ablehne. Eigentlich. Auch merke ich manchmal viel zu spät, dass ich gerade im Mangel bin, sei es Schlaf/Essen/Austausch/Leichtigkeit/Nähe und stochere etwas hilflos im trüben Bedürfnisnebel herum. (Und meine Lieblingsmenschen ernten das Rumgemotze.) Eine mögliche Antwort darauf könnte meine erlernte Hilflosigkeit sein, die die Autor:innen gleich zu Beginn erläutern. Wenn sich ein Kind früh als macht- und hilflos erlebt, dann führt dies in der Folge auch dazu, dass Situationen als nicht oder kaum kontrollierbar erlebt werden. Wenn ich als Kind also nicht gegen die Meinung oder Vorstellungen meiner Bezugspersonen ankomme, dann lerne ich weder meine unerfüllten Bedürfnisse mitzuteilen noch autonom zu agieren oder Strategien zu erlernen, um selbstwirksam zu sein. Wenn Erwachsene vermitteln, dass sie entscheiden, wann ein Kind satt ist, ob es friert, angemessen traurig ist oder einen Baum erklettern kann, dann lernt das Kind es entsprechend nicht selbst und wehrt sich nicht, wenn es notwendig wäre. Schließlich möchte es geliebt werden, dazugehören und es fühlt sich vielleicht nur dann ok, wenn es sich der Kontrolle der Erwachsenen unterordnet.

„Wo soll das nur noch hinführen!?!“

Abgesehen von der sehr aufschlussreichen Darstellung stellen sich nun für mich folgende Fragen: Gelingt es mir aufgrund meiner erlernten Hilflosigkeit manchmal nicht, die Signale meiner Kinder angemessen zu verstehen? Schließlich lerne ich es selbst immer noch. Ist das auch ein Grund dafür, warum ich weiterhin, trotz all der Einfühlungsprozesse und all des Wissens zu Entwicklungsprozessen, viel zu viel unbewusst moralisch bewerte? Obwohl ich gerade mit Hilfe der Gewaltfreien Kommunikation Bewertung und Beobachtung gelernt habe zu unterscheiden und die Haltung einer inneren Beobachterin einzunehmen, bewerte ich Entwicklungsschritte oder meine, dass bestimmte Reaktionen sich darauf beziehen, dass ich nicht ernst genommen werde. Aber das gehört eigentlich an andere Personen adressiert und sicher nicht an meine Kinder.

Stattdessen werde ich in diesem Buch gelehrt, die Entwicklung meiner Kinder neugierig und aufmerksam in den wertschätzenden Blick zu nehmen und bestimmte Verhaltensweisen nicht zu moralisieren und folglich zu dramatisieren. Ich dachte immer, dass mir das mittlerweile nicht mehr passiert, doch weit gefehlt. Wenn meine Tochter also mal eine Spange aus dem Kindergarten ungefragt mitgehen lässt, dann ist das normal und endet nicht in einer Diebstahlkarriere (da erröte ich doch beim Schreiben, dass ich tatsächlich besorgt war.) Besonders dankbar bin ich den beiden Autor:innen, dass sie konkrete Wege aufzeigen, damit umzugehen, die empathisch, wertschätzend und klar sind. Ich rege also behutsam Einfühlung an und zeige nicht schreckliche Folgen auf à la „Dann will Kind X vielleicht nicht mehr mit dir spielen, weil es kein Vertrauen hat.“ (Wurde ich belauscht?) Die Gefahr der Heranzucht von Ego:istinnen, die dahinter steckt hat mich überzeugt.

Konsequente Bedürfnisorientierung

Kürzlich fragte mich eine Seminarteilnehmerin, ob Gewaltfreie Kommunikation in der Schule meine, dass „eine Lehrerin dann eine gute Lehrerin ist, wenn sie allen Bedürfnissen eines jeden Kindes hinterher eifere und die versucht zu erfüllen?“ Danielle Graf und Katja Seide liefern darauf eine wichtige Antwort, die auch für Eltern entscheidend ist, wenn sie ihre Kinder bedürfnisorientiert begleiten möchten. Es geht nicht darum, dass Kinder den ganzen Tag glücklich sind und die Erwachsenen nur damit beschäftigt sind, deren Bedürfnisse sofort zu erfüllen. Dahinter steckt womöglich auch eine begriffliche Vermischung von Wunsch und Bedürfnis. Es geht vielmehr darum, die Bedürfnisse aller Beteiligten im Blick zu haben. Sie wählen das Bild des Kochens eines Menüs mit mehreren Töpfen. Ganz ähnlich argumentiert Britta Hahn in ihrem Buch „Mama, was schreist du so laut?“. „Mit glücklichen Kindern ist das hierarchische System aber noch nicht überwunden, sondern es wird fortgesetzt unter anderen Vorzeichen. […] In einem gleichwertigen System steht niemand über dem anderen.“[2] Dass die Bedürfnisse der Kinder angemessen erfüllt werden und sie darum nicht kämpfen müssen, ist genauso wichtig, wie auch die Bedürfnisse der Erwachsenen stets im Blick zu behalten. Wir als Erwachsene können die Bedürfnisbefriedigung sicher auch einmal verschieben, aber das sollte kein Dauerzustand sein. Und um nicht missverstanden zu werden: Wenn Bedürfnisse erfüllt werden, dann fühlen wir uns wohl und glücklich (auch hier wird wieder neurowissenschaftlich argumentiert). Aber Lebendigkeit entspringt aus allen Gefühlen, die uns letztlich wieder zu unseren Bedürfnissen führen. Wenn ich nicht lerne, mit Wut und Trauer angemessen umzugehen, dann wird es eine echte Herausforderung im Leben.

Wessen Bedürfnisse sind nicht erfüllt?

Meine eigenen Bedürfnisse im Blick zu behalten ist zum Beispiel auch wichtig, wenn ich einen Konflikt mit anderen Kindern oder deren Eltern habe.  Wenn also die Spielkamerad:innen täglich Zugang zu Schokolade, Eis und Chips haben und ich das nicht möchte, dann ist es meine Aufgabe, das mit den Eltern zu klären und es nicht über die Kinder auszutragen. Wieder fühle ich mich persönlich angesprochen und merke, dass es eine Portion Mut braucht (erlernte Hilflosigkeit?), dass ich auf das Elternteil zugehe und meine Bedenken anspreche. Ich möchte nicht, dass unsere Kinder täglich so viele Süßigkeiten essen und kann es ihnen nicht zum Vorwurf machen, wenn sie immer wieder dazu eingeladen werden.

Schließlich sprechen Danielle Graf und Katja Seide noch einen wichtigen Punkt an. Ob 2 Jahre voll stillen, brei- bzw. windelfrei oder autonomes ins Bett gehen- wichtig ist, das jeweilige Kind und sich selbst ernst zu nehmen. Was braucht das Kind und was passt in unseren Alltag? Wenn das Stillen nach 9 Monaten beendet ist, dann ist das kein Versagen als modernes Elternteil. Es gibt eben gerade keine pauschale bedürfnisorientierte Elternschaft, sondern ganz unterschiedliche Familien mit verschiedenen Strategien und Bedürfnissen. Leider wird an manch anderer Stelle vermittelt, dass es bestimmte Standards zu erfüllen gilt und schon geht die Spirale des Bewertens wieder los. Gerade das habe ich beim Lesen als heilsam erlebt. Obwohl ich gemerkt habe, wie oft ich noch nicht konseuqnet bedürfnisorientiert handle, wurde ich immer wieder eingeladen, das versöhnlich anzunehmen und meinen Blick zu öffnen. Selbst bei Themen wie Drogen oder Medienkonsum stellen die Autor:innen so beeindruckend konsequent die Frage nach unerfüllten Bedürfnissen, dass ich gestärkt in den Alltag gehen kann. Wenn ich selbst meine Bedürfnisse klar und respektvoll wahrnehme und dies vorlebe, dann lernen das auch meine Kinder. Sie lernen Rücksicht, Respekt, Autonomie, Selbstwirksamkeit und Lebendigkeit. Dafür braucht es weder Strafen noch Drohungen oder moralische Bewertungen. Die bewirken letztlich auch eher das Gegenteil.

Wenn du profesionelle Begleitung in Form eines Coachings suchst, um bedürfnisorientierte Elternschaft in deiner Familie zu etablieren und wertschätzende Beziehungen zu gestalten, dann nimm gern Kontakt mit mir auf!


[1] Graf, D. /Seide, K. (2018): Das gewünschteste Wunschkind aller Zeiten treibt mich in den Wahnsinn. Gelassen durch die Jahre 5 bis 10. Weinheim.

[2] Hahn, Britta (2010): Mama, was schreist du so laut? Paderborn. S. 126.