„Das klingt ja schön in der Theorie“ oder von klassischen Einwänden

„Das klingt ja schön in der Theorie“ oder von klassischen Einwänden

Ein besonders häufig angefragtes Weiterbildungsthema ist der grundsätzliche Umgang mit störendem Verhalten. Sei es als respektloser Umgang unter Kindern durch Beleidigungen oder Konflikte, Unterbrechungen des Unterrichts durch Unpünktlichkeit, Aufstehen, Zwischenrufe oder Verweigerung oder gewalttätiges Auftreten. Als ehemalige Lehrkraft kann ich mich lebhaft daran erinnern, wie ich diesbezüglich immer neue Erfahrungen gesammelt, Strategien mehr oder wenig erfolgreich erprobt und im Lehrerzimmer meine Sorgen geteilt habe. Mittlerweile komme ich in Schulen oder Kitas und biete dazu Seminare und Workshops an. Wahrscheinlich hätte ich ähnlich enttäuscht reagiert, wenn die Referentin mir damals gleich zu Beginn einer Veranstaltung gesagt hätte, dass sie DAS Rezept leide nicht habe und dass es keine einfache Lösung gibt. Wie sehr ist doch der Wunsch da, einen Weg zu finden, der nicht so viel Anstrengung kostet, vor allem dann, wenn es in verschiedenen Lerngruppen und in geballter Form auftritt. Wo fange ich an und wann kann ich für die da sein, die motiviert sind? Gibt es nichts, was schnell und effektiv wirkt? Kann es nicht auch einfach mal leicht sein?

Mittlerweile habe ich mich vielfach weitergebildet, sei es durch Seminare oder auch im Selbststudium. Daraus ist eine tiefe Überzeugung gewachsen, dass der nachhaltige Weg im Umgang mit herausfordernden Verhaltensweisen letztlich nur über sichere und wertschätzende Beziehungen führt, innerhalb derer ich authentisch sein kann, eigene Grenzen klar gezeigt werden und beharrlich Werte wie Respekt, Autonomie, Zugehörigkeit und Toleranz u.a. gepflegt werden. Strafen, Druck, Beschämung, Ampelsysteme oder Machtspiele lehne ich aus vielerlei Gründen ab. Was kann ich denn dann tun? Wenn wir uns in Seminaren zunächst aus der Vogelperspektive dem tatsächlichen Erleben der Pädagog:innen näheren, kommen immer wieder ähnliche Einwände, auf die ich hier gern eingehen möchte.

„Ich will ja eigentlich auch nicht strafen, aber die fordern das regelrecht ein. Es funktioniert wenigstens.“

Ja, auch ich habe mit der guten Absicht der Einbeziehung der Lernenden gemeinsam Regeln und entsprechende Konsequenzen im Sinne von Strafen beschlossen. Deren Durchsetzung wurde dann aktiv eingefordert und von mir umgesetzt. Oft hat das dann eine gewisse Wirkung gezeigt. Zumindest in dem Sinne, dass das störende Verhalten erstmal nicht mehr kam (die Betonung liegt auf erstmal).

Strafen setzen voraus, dass es eine klare Hierarchie gibt, die festlegt, was falsch bzw. richtig ist. Die stärkere Person ist dazu berechtigt, andere zu bestrafen. Kinder und Jugendliche lernen folglich, dass es legitim ist, sich seiner Überlegenheit zu bedienen, um andere zu beeinflussen bzw. die eigene Macht zu missbrauchen. Die damit zusammenhängende erlebte Beschämung kann an anderer Stelle in Form von Aggressionen wieder auftreten. Strafen fokussieren das Fehlverhalten und zeigen damit keine Wege auf, zum gewünschten Verhalten zu kommen. Selbst wenn das Kind oder der Jugendliche das Verhalten gern ändern möchte, fehlen die nötigen Strategien. In der Regel ist das angepasste Verhalten eine Schutzstrategie oder Vermeidungstaktik, nicht aber einem tatsächlichen Entwicklungsprozess oder einer Einsicht geschuldet.

Des Weiteren stellt sich für mich auch die Frage nach dem grundsätzlichen Umgang untereinander. Möchte ich als Person bestraft werden, wenn ich etwas mache, was andere stört oder wenn ich die Grenze anderer verletze? Wie kann ich die Schuldgefühle überwinden und mich wieder als zugehörig und gleichwürdig erleben? Es mag überraschen, aber das Grundgesetz gilt sogar für Kinder. Auch deren Würde ist unantastbar und Gewalt ist seit nunmehr 22 Jahren in der Erziehung verboten.

Es ist mir unvorstellbar, dass mich eine Freundin bestraft. Vielmehr sehe ich Raum für ein Gespräch, für eine Form der Wiedergutmachung. Warum sind Strafen bei Kindern legitim? Hier zeigen sich deutlich adultistische[1] Denkweisen, dass Kinder einer besonderen Behandlung bedürfen, weil sie nur so lernen sich zu benehmen.

Schließlich geht es auch um die beliebte Kant’sche Handlungsmaxime, hier sehr frei: „Handle so, wie du auch behandelt werden möchtest.“ Ich lerne Grenzen zu respektieren, wenn sie klar sind und mir respektvoll auf Augenhöhe begegnet wird.

„Die kennen das doch nicht anders und können nichts damit anfangen.“

Wer kennt nicht die Situation, als hochmotivierte Berufseinsteiger:in kooperative Lernformen zu erproben und Konflikte in Form von zugewandten Gesprächen lösen zu wollen. Doch die gerade übernommene Lerngruppe zeigt weder kooperatives Verhalten noch werden die Gespräche wirklich ernst genommen. Ist dann der Schluss folgerichtig, es zu lassen und auf altbekannte Muster umzusteigen?

Nein! Es braucht für alle Veränderungsprozesse Zeit, Beharrlichkeit und vor allem die Sicherheit für die Heranwachsenden, dass ich es so meine wie ich es vorgebe. Falle ich in ein strafendes oder autoritäres Muster zurück, ist es eine selbsterfüllende Prophezeiung für die jungen Menschen: „Die meint es auch nicht ernst mit uns.“

Selbst wenn ich mehrheitlich Kinder in einer Lerngruppe habe, die zuhause nicht den respektvollen und wertschätzenden Umgang erfahren, der ihnen menschenrechtlich zusteht, darf das nicht der Freifahrtsschein sein, ihnen ebenso zu begegnen. Auch hier handelt es sich um eine grundsätzliche Frage der inneren Haltung. Sollen Menschen anders behandelt werden, weil sie in unterschiedlichen Kontexten aufwachsen? Gibt es Menschen, die es mehr verdient haben als andere? Schon beim Schreiben dieser Fragen sträubt es sich in mir.

Schließlich ist es gerade eine Chance für Heranwachsende, unterschiedliche Erwachsene zu erleben, die ihnen zeigen, was zwischenmenschlich auch möglich ist. Kinder und Jugendliche lernen am Modell. Wenn ich als Pädagog:in Vorbild im mitmenschlichen Umgang bin, dann wirkt dies viel nachhaltiger als Ermahnungen, Strafen oder Zurechtweisungen. Empathie wird bei Kindern z.B. laut Mona Kino[2], Familientherapeutin, dadurch gefördert, dass Erwachsene Vorbild im Umgang mit Kindern und untereinander sind.  Der zwischenmenschliche Umgang an Schule zeigt sich für mich übrigens auch im Umgang mit Externen. Wird gegrüßt und verabschiedet? Wie pünktlich werden Seminarzeiten eingehalten? Wie konstruktiv wird Kritik geäußert?

„Wenn ich da nicht durchgreife, machen die doch, was sie wollen!“

Wenn ich in Weiterbildungen einen der Leitsätze der systemischen Autorität vorstelle, das Eisen zu schmieden wenn es kalt ist und dass ich als Pädagog:in nicht alles sofort klären müsse, dann beginnen die ersten unruhig zu werden. „Ich soll respektloses Verhalten nicht sanktionieren? Wo soll das denn hinführen!?!“

Zunächst einmal finde ich es wichtig, zwischen einer Grenzsetzung und Sanktionen bzw. Konsequenzen zu unterscheiden. Wenn eine Grenze z.B. durch Beleidigungen oder Gewalt überschritten wird, dann sollte dies sofort aufgezeigt und ein klares Stopp gesetzt werden. Doch wer sagt, dass ich auf eine Grenzüberschreitung direkt und sofort mit einer Konsequenz oder Sanktion reagieren muss? Wieso kann ich mir nicht erstmal Zeit verschaffen, um in einem ruhigeren Moment nochmal auf die Situation zu schauen und mir etwas überlegen, was pädagogisch auf die Zukunft ausgerichtet und im Rahmen meines Kontextes bzw. meines Aufgabenbereiches angemessen ist? Wir sind keine Richter:innen, sondern Pädagog:innen. (Und damit will ich nicht sagen, dass Richter:innen vorschnelle Entscheidungen treffen, ganz im Gegenteil. Aber die Schuldfrage hat in Schule in der Regel nichts zu suchen.)

Hinter diesem Einwand liegt möglicherweise auch die Sorge eines Kontroll- oder Autoritätsverlusts und die Angst, nicht mehr ernstgenommen zu werden. Doch in dem Moment, wo ich mich auf ein Machtspiel einlasse, ganz egal, ob Lernende die Spieleinladung sehr offensichtlich aussprechen, bediene ich mich eines eskalationsfördernden Verhaltensmusters. Ähnlich verhält es sich mit dem Spiel um Stolz. Es treibt die Spirale der Eskalation eher nach oben und endet im schlimmsten Fall in einem Machtkampf vor der Lerngruppe und dem Eingestehen einer als Niederlage erlebten Situation. Hier hilft die Frage nach der eigenen Absicht. Worum geht es mir eigentlich und was ist meine Aufgabe?

Alles, was Menschen tun, tun sie für sich und nicht gegen andere. Hinter den von mir als störend erlebten Verhaltensweisen gibt es einen ‚guten‘ Grund, ein unerfülltes Bedürfnis. Das Verhalten ist die in dem Moment als am sinnvollsten oder hilfreichsten wahrgenommene Strategie. Beziehe ich störendes Verhalten lediglich auf mich, z.B. als ein Infragestellen meiner Person oder meines Ansehens, dann verkenne ich den guten Grund dahinter und überhöhe meine Person.

„In meinem Einstundenfach geht das nicht.“

Sei es Musik, Geografie, Ethik oder Geschichte- manche Pädagog:innen unterrichten alle Klassen einer Schule und können von Erfolg sprechen, wenn jede:r Schüler:in 3 Ziffernnoten pro Halbjahr bekommen hat. Diese Kolleg:innen hören meinen Impulsen, in denen es um Beziehungsaufbau und -pflege geht, zwar aufmerksam zu, sind ab einem gewissen Moment aber resigniert- verständlicherweise. Sie müssen aufgrund der beschränkten Ressource Zeit noch viel verbindlicher Lehrplaninhalte ‚durchziehen‘. Stephan Marks spricht hier von struktureller Beschämung der Lehrpersonen, die in diesem System bestimmte Dinge per se nicht leisten können, ganz gleich ob sie wollen oder nicht.

Selbst wenn das so ausgesprochen und anerkannt wird, löst dies nicht die Herausforderung, im Alltag mit Unterrichtsstörungen umzugehen. Ich halte es dann für umso wichtiger, sich regelmäßig als Team auszutauschen und gemeinsam Präsenz zu zeigen. Das stärkt nicht nur die Kolleg:innen in ihrem Erleben („Ich bleibe nicht allein“), sondern zeigt sich auch wirkungsvoller.

Am Ende bleibt es trotzdem wieder eine Frage der Haltung und der fachpersönlichen Integrität. Wie möchte ich Menschen begegnen? Kann ich mich selbstwirksam erleben, wenn ich mich aufgrund äußerer Bedingungen gegen Beziehungspflege und Begegnung auf Augenhöhe entscheide und stattdessen den Weg der Strafen wähle? Oder löst dies eher noch mehr innere Konflikte aus?

„Da kann ich meine Fachinhalte gleich sein lassen, wenn ich das umsetze.“

Der Lehrplan setzt nicht wenige Pädagog:innen mit Blick auf Prüfungsinhalte unter Druck. Dies wurde in den letzten Jahren durch Lockdownzeiten noch verschlimmert. Natürlich kann ich meine Fachinhalte durchziehen. Doch seien wir an dieser Stelle ehrlich: Wie viel fachliches Lernen ist möglich, wenn die Beziehungen in der Lerngruppe oder mit der Lehrperson nicht stimmen? Mittlerweile ist hinreichend bekannt, dass es zunächst einen sicheren Lernraum braucht, um lernen, kreativ sein, Informationen abrufen und sich konzentrieren zu können. In dem Moment, in dem ich mich frage, ob ich ok bin, so wie ich bin oder ob mir eine Gefahr droht, dann spielen die Fachinhalte kaum eine Rolle. Strafen, Ampelsysteme oder andere beschämende Strategien führen eher dazu, dass ich mich als Lernende:r unsicher fühle und auf Schutzmechanismen zurückgreife.

„Das sind so viele in der Klasse, da weiß ich nicht, wo ich anfangen soll.“

In den meisten Klassen gibt es nicht nur eine Person, die herausforderndes Verhalten zeigt und ich erlebe mich als Lehrkraft ein Stück hilflos. Sobald ich mich der einen Person mehr zuwende, macht eine andere weiter. Wenn ich systemisch auf diese Situation blicke, dann bin ich ganz zuversichtlich, dass es einen nächsten kleinen Schritt gibt, der das ganze System in Bewegung bringt. Hier wird gern der Vergleich des Mobiles herangezogen. Ich kann nur mein Verhalten ändern und das wirkt, auch wenn nicht immer absehbar ist, wie genau.

Im Sinne des Ansatzes der systemischen Autorität ist es dann außerdem besonders wichtig, Netzwerke zu bilden und sich im Team bzw. Kollegium zu unterstützen, denn ich bleibe nicht allein.

Zugegeben, es sind nicht die bequemsten Antworten. Mir hilft es, mich immer wieder an meine Überzeugungen zu erinnern und mich zu fragen, worum es mir eigentlich geht. Kann ich abends in den Spiegeln schauen und sagen, dass ich überzeugt bin von dem, was ich tue? Und wenn ich das nicht kann, wie kann ich das ändern und was kann ich dafür tun? Der Umgang mit den Kindern heute prägt zukünftige Generationen und ich frage mich, in welcher Welt wir leben wollen.

Wenn auch du oder dein Team Interesse an einer Weiterbildung oder einem individuellen Coaching haben, dann nimm gern Kontakt mit mir auf.


[1] Adultismus meint die Diskriminierung von Kindern aufgrund ihres Alters, als seien es keine vollwertigen Menschen und müssten anders behandelt werden als Erwachsene.

[2] Vgl. Hohmann, 2022, S. 93.