Das Geschwisterbuch – Holt den „inneren Jesper Juul raus!“

Das Geschwisterbuch – Holt den „inneren Jesper Juul raus!“

Der Blog von Danielle Graf und Katja Seide hat mich, wie so viele andere Eltern auch, sicher, leicht, bestärkend und klar durch die ersten Jahre meiner Kinder gebracht. Egal zu welchem Thema ich etwas gesucht habe, von windelfrei bis Kindergeburtstag wurde ich fündig. Ich habe mir deshalb nicht die Gelegenheit entgehen lassen, ihr neues Buch „Das gewünschteste Wunschkind aller Zeiten treibt mich in den Wahnsinn. Das Geschwisterbuch“ vorzubestellen und mir dann in den Urlaub mitbringen zu lassen. Während die Kinder also beim Melken der Ziegen zuschauten oder Einkaufen spielten, nutzte ich jede Gelegenheit zum Lesen.

Meinen Hauptkritikpunkt möchte ich gleich vorwegnehmen. Ich bedaure es sehr, dass dieses Buch erst jetzt erscheint, 3 Jahre nach der Geburt unseres 2. Kindes. Zu gern würde ich die Zeit entsprechend zurückdrehen, dieses Buch lesen und dann die nachgeburtliche Geschwisterkrise viel empathischer und entspannter begleiten. Wer jetzt allerdings glaubt, dass das Geschwisterbuch nur in der Zeit direkt nach der Geburt eines Geschwisterkindes relevant sei, dem kann ich sagen, dass dem keinesfalls so ist. Sie haben alle möglichen Konstellationen integriert: von der Bonusfamilie über Geschwister außerhalb der Norm und Geschwisterhass hin zu alltäglichen Situationen wie Erster sein, Grenzüberschreitungen und Wutanfälle im Supermarkt und natürlich auch grundsätzlich Geschwisterstreit.

Danielle Graf und Katja Seide verbinden unterschiedlichste Ansätze ganzheitlich miteinander, in denen es stets darum geht, sich gleichwürdig zu begegnen und die Gefühle und Bedürfnisse aller Beteiligten im Blick zu behalten, um so in Beziehung zu treten. Es gelingt den beiden Autorinnen auf beeindruckende und humorvolle Weise fundierte Hintergründe, persönliche Erfahrungen, Studien und ganz praktische Tipps so miteinander zu verknüpfen, dass das Lesen bereichert und erfreut. Dabei nehmen sie immer wieder respektvoll und sensibel die Perspektive aller Beteiligten ein, ohne zu verurteilen oder anzuprangern. Zahlreiche Fallbeispiele inklusive konkreter Dialoge erleichterten es mir, mich in die mitunter besonders herausfordernden Situationen einzufühlen.

Dem Ruf nach konkreten Handlungsrezepten für Situation X und Situation Y mit mehreren Kindern kommen sie vielfach nach. Dadurch, dass die Autorinnen nicht nur im Beschreiben und präzisen Erklären von unterschiedlichsten (Alltags)situationen mit mehreren Kindern verharren, sondern immer ein Kapitel „Wie können Eltern reagieren?“ anschließen, habe ich sehr viel gelernt und kann nun klarer und gelassener auf Konfliktsituationen schauen. Der respektvolle Blick auf das Kind ist sehr heilsam und ich würde rückblickend gern einige Situationen mit meinen Kindern anders gestalten. Aber keine Sorge! Es entsteht nicht grundsätzlich schlechtes Gewissen beim Lesen, denn sie haben auch die Eltern im Blick, die ihre eigenen Bedürfnisse mitbringen und manchmal einen Streit zwischen Geschwistern eben nicht mit dem aktiven Zuhören à la Thomas Gordon begleiten können, sondern den Raum verlassen und Kopfhörer aufsetzen- Stichwort Selbstfürsorge und „innerer Jesper Juul“.

Kaum hatte ich das Buch weggelegt, ergab sich bereits ein breites Übungsfeld. Der kleine Bruder spielte mit Autos, die große Schwester wollte mitspielen und nahm ein Auto weg. Dann habe ich einfach mal ausprobiert, was Danielle Graf und Katja Seide für eine fast identische Situation vorgeschlagen haben und es hat so wunderbar funktioniert. Nach einem kurzen Gespräch über unsere Leitlinie, niemandem etwas durch körperliche Überlegenheit wegzunehmen und stattdessen zu reden, konnte unser Sohn weiter allein spielen. Unserer Tochter schlug ich ein gemeinsames Kartenspiel vor, das sie Freude strahlend annahm. Am nächsten Tag gab es einen Konflikt auf der Wanderung, wo unsere Tochter kleine Äste eines größeren Astes abbrach, den unser Sohn als Straßensauger im Spiel nutzte. Statt zu schimpfen reichte es, ihr klar und bestimmt zu sagen, was ich möchte und gleichzeitig ihren Wunsch aufzugreifen: „Kann es sein, dass du auch so einen Ast möchtest und es gerade nicht anders ausdrücken konntest?“ Sie wollte ihren Bruder nicht ärgern, sondern hatte ein Bedürfnis nach Spiel und Verbundenheit.

An vielen Stellen habe ich auch an Konflikte zwischen Lernenden im Schulalltag gedacht und konkrete Handlungsempfehlungen mitgenommen. Ich werde sicher immer wieder darin nachlesen und die wunderbare Übersicht, wann wir wie eingreifen und wann nicht, hängt als Kopie im Flur!