Ich gebe zu, dass mir der Begriff des Adultismus erst vor einigen Monaten begegnet ist, obwohl ich mit der Form des veräußerlichten und verinnerlichten Adultismus mehr als vertraut bin (Das ist erschreckend nach über 12Jahren im Schuldienst und 6 Jahren Studium!). Für alle, für die der Begriff an dieser Stelle neu ist, möchte ich ihn kurz erläutern. Adultismus ist eine Diskriminierungsform, bei der es eine Machtungleichheit und eine Ungleichbehandlung zwischen Kindern und Erwachsenen gibt. Adultistische Verhaltensweisen, Denkmuster und Äußerungen lassen sich wohl am einfachsten daran erkennen, dass wir sie bei Erwachsenen niemals so tätigen würden.
„Muss ich dir alles dreimal sagen?“
Nun halte ich beim Schreiben bereits inne und gehe den gestrigen Tag mit meinen Kindern durch. Welche Sätze habe ich verwendet, die genau genommen eigentlich schon adultistisch sind? Ich stelle immer wieder mit Erschrecken fest, wie tief die adultistische Haltung doch sitzt, so sehr ich mich damit auch auseinandersetze und hinterfrage. Zwar hören unsere Kinder niemals die Sätze „Dazu bist du noch zu klein.“, weil wir ihnen auf alle Fragen versuchen Antworten zu geben. Doch wie oft bevormunde ich meine Kinder bei Alltagsaktivitäten? Wenn wir z. B. gemeinsam aufräumen, putzen oder kochen, muss ich mich aktiv zurückhalten, es nicht wieder an mich zu reißen, 100 Hinweise zu geben, damit sie es genauso (ordentlich, effizient) machen wie ich. Eigentlich möchte ich ihnen zugestehen, dass sie Erfahrungen sammeln und eigentlich finde ich es total schön zu sehen, wie sie einen Beitrag leisten und sich als selbstwirksam erleben wollen, aber da gibt es eine adultistische Stimme in mir, die dann sagt: „ Na toll, wenn du so das Zimmer kehrst, dann kann ich es ja gleich nochmal machen!“ „Pass doch auf mit dem Mehl!“ Dann kommen Scham und Bedauern darüber, dass diese Stimme da ist und so gern auf der Bühne steht. Leider bin ich damit nicht allein und auch im Schulalltag ist Adultismus dauerpräsent.
Die Würde eines Menschen ist unantastbar. Sogar die von Kindern
Während eines spannenden Seminars zur Portfolioarbeit im Rahmen meines Weiterbildungsstudiums entstand die Diskussion, ob Lernende berührt werden dürfen. Schließlich gibt es nicht selten den Hinweis, dass die Hand auf der Kinderschulter beruhigend wirken und eine sinnvolle Intervention bei Störungen darstellen kann. Diese scheinbar sanfte Methode wirkt zunächst überzeugend, weil ich durch körperliche Präsenz und Verbindung Lernenden ohne Worte ein deutliches Signal sende. Schon das Gedankenspiel mit Studierenden oder Lehramtsanwärter:innen verdeutlicht jedoch das Problem. Würde ich in einer Seminargruppe, in der in einer Frontalphase Nebengespräche entstehen, zu den Personen hingehen und ihnen auf die Schulter fassen? Nein! Auch der Perspektivwechsel löst in mir Wut und Irritation aus, denn ich möchte nicht ungefragt von anderen Menschen berührt werden, mit denen ich nicht in einer vertrauten und persönlichen Beziehung stehe. Bei Kindern (und schwangeren Frauen) jedoch maßen wir uns an, sie ungefragt zu berühren. Ich habe diese Diskussion damals als Anlass genommen, in meiner Klasse mal zu fragen. „Wie ist das eigentlich für euch, wenn ich rumgehe und euch an der Schulter berühre?“ Es meldeten sich sofort Kinder zu Wort, für die das mehr als unangenehm war. Ich habe von da an Kinder im Unterricht nicht mehr ungefragt berührt.
„Zurücktreten, bitte!“
Ein spannendes Feld, um adultistisches Verhalten zu beobachten, ist der Eingangsbereich des Lehrerzimmers. Ein:e Schüler:in klopft an, um etwas zu erfragen, eine Lehrperson zu sprechen oder etwas abzugeben. Wehe der Person, die als Nichtlehrkraft einen Fuß zu weit ins Lehrerzimmer setzt oder es sogar betritt. „Na, das ist das LEHRERzimmer!“ „Ich suche Frau Müller. Wissen Sie, wo sie ist?“ – „Nein, woher soll ich das wissen? Wir sind ja nicht verheiratet.“ Wenn ich als Erwachsene diese Antwort erhalten würde, wäre ich mehr als irritiert. Ich möchte hier keine Verallgemeinerung treffen, die ich nicht verifizieren kann, aber in meiner persönlichen Beobachtung habe ich leider viel zu häufig Dialoge erlebt, in denen es auf eine angemessene Frage eines Lernenden keine angemessene Antwort gab. Entweder wurde eine ganz „witzige“ Antwort gegeben, genölt, Höflichkeit angemahnt, ein Hinweis gegeben, wie zu handeln sei oder Selbstständigkeit eingefordert („ Ich bin doch nicht deine Sekretärin!“). Wenn ein:e Schüler:in nicht zuerst grüßt, dann kann das schon dazu führen, dass die Tür wieder zugemacht wird. „Das probieren wir jetzt gleich nochmal und zwar mit einer Begrüßung.“ Warum müssen Kinder immer als erstes höflich sein (Adultismus lässt grüßen)? Warum können Erwachsene nicht ein Modell sein und Höflichkeit vorleben? Auch hier funktioniert das Gedankenexperiment, mir das unter 2 Erwachsenen vorzustellen. Und wer jetzt denkt: „Ja, stimmt. Dann würde ich denken, der/die behandelt mich wie ein Kleinkind!“, dem sei gesagt, dass auch das dann eine adultistische Haltung ist. Es gibt übrigens Schulen, in denen die Lehrerzimmer offen und Postfächer für Schüler:innen frei zugänglich sind.
„Ich werde heute deine Eltern anrufen!“
Stell dir vor, du erhältst einen Anruf vom Teamleitenden deines Partners bzw. deiner Partnerin. „ Ich möchte Sie darüber informieren, dass X/Y heute in der Teamrunde mehrfach unangemessen gelacht hat. So geht das nicht. Ich erwarte Aufmerksamkeit und Ruhe. Auf Wiederhören!“ Wie würdest du reagieren? Unangemessen lachen? Solche Anrufe aus der Schule finden statt und sind für mich verstörend. Warum werden Eltern als Drohung eingesetzt? Dies verbaut nicht nur die für den Lernerfolg so wichtige Kooperation zwischen Elternhaus und Schule, sondern auch die Möglichkeit, Lernenden auf Augenhöhe und gleichwürdig zu begegnen. Natürlich kann es sehr sinnvoll sein, mit Eltern regelmäßig in Kontakt zu sein, um Entwicklungen und Beobachtungen zu teilen und ggf. Ableitungen für die tägliche Arbeit zu finden. Wenn ich dies aber in der Hoffnung tue, dass das Kind bestraft, bloßgestellt oder geschimpft wird, dann missbrauche ich meine Macht.
„Jetzt gebt euch die Hand!“
Immer wieder treten im Schulalltag Konflikte zwischen Kindern und Jugendlichen auf. Gerade Jüngere suchen zur Klärung oft die Hilfe von Erwachsenen. Teilweise bedingt durch fehlende Zeit und Ruhe für ein konstruktives Gespräch, geraten Erwachsene dann oft in die Richter:innenrolle. Wer hat angefangen, Recht und Schuld? Wer hat sich zu entschuldigen oder wird sanktioniert? Schnell übernehmen Erwachsene den Klärungsprozess und nehmen den Kindern den Lernprozess ab, Sozialkompetenzen für folgende Auseinandersetzungen zu erwerben. Auch hier sehe ich eine gewisse adultistische Haltung. Würden wir bei zwei sich streitenden Erwachsenen Sätze sagen wie: „Hier wird nicht gestritten! Jetzt gebt euch die Hand und entschuldigt euch bei einander und dann ist auch wieder gut! Ihr müsst doch jetzt nicht so ein Drama drausmachen, wegen so einer Kleinigkeit.“
„Ein bisschen mehr Respekt, bitte!“
Schließlich möchte ich noch einen Blick auf das Thema Respekt werfen. Allzu oft wird bemängelt, dass Kinder und Jugendliche immer weniger Respekt vor Autoritäten haben. Seien es das Grüßen auf dem Gang (siehe Lehrerzimmerdialoge) oder der Kleidungsstil, der als persönlicher Ausdruck auf einmal eine Frage des Respekts wird. In Thüringen wird in der Sekundarstufe 2 eine fächerübergreifende Facharbeit in Kleingruppen geschrieben, die Voraussetzung für die Zulassung zum Abitur ist, in einem Kolloquium verteidigt werden muss und eine mündliche Abiturprüfung ersetzen kann. Neben dem üblichen Stress in der Oberstufe kommen noch die Herausforderungen dazu, in einer Gruppe über einen Zeitraum von über 2 Jahren zusammenzuarbeiten, das Interesse am Thema aufrechtzuerhalten und einen fundierten Fließtext zu verfassen. Mittlerweile wird das Schlupfloch regelmäßig genutzt, dass Lernende eine Arbeit verfassen, dann aber nicht zum Kolloquium antreten. Sie müssen dennoch zum Termin persönlich erscheinen und ihr Nichtantreten verkünden. Da wurde es bei einer Gruppe als hochgradig respektlos verurteilt, dass die Schüler keinen Anzug und Krawatte trugen. Ich erinnere mich, wie ich erschrocken an mir herabblickte und meine eigene Kleidung überprüfte: „Verhalte ich mich respektvoll meinen Mitmenschen gegenüber?“ Dass Kleidung bestimmten Konventionen genügen sollte, kann ich nachvollziehen. Aber wir Lehrkräfte saßen ebenfalls nicht in Anzügen oder feierlichen Kleidern, sondern in Jeans und Shirt dort. „Schon aus Respekt uns gegenüber hätten sie antreten müssen. Wir haben sie schließlich begleitet!“( Für die Pädagog:innen, die Seminarfach unterrichten, gibt es übrigens bezahlte Lehrerwochenstunden.)
„Zu viel Respekt vor der Schüleräußerung“
Die beiden Schüler waren damit unten durch, verurteilt und in der Schublade der unzuverlässigen, undankbaren Faulpelze gelandet, weil sie ein legitimes Mittel in einem leistungsorientierten System gewählt haben, das die Kosten-Nutzen-Rechnung durchaus fördert. Erfülle ich mir mein Bedürfnis nach Respekt, indem Lernende etwas tun, das sie wiederum belastet und überfordert? Sicher kann ich auch den Frust der Kolleg:innen nachvollziehen. An einem leistungsorientierten Gymnasium ist das aus meiner Sicht allerdings kein berechtigter Vorwurf, sondern eher Ausdruck einer adultistischen Haltung. Denn wir Erwachsene entscheiden ebenso bei Aufgaben nach Nützlichkeit, Kapazität und Sinnhaftigkeit.
Ich habe den staatlichen Schuldienst aus vielen Gründen verlassen. Nicht zuletzt hat dazu die Äußerung einer Kollegin beigetragen, die mir bescheinigte, dass ich zu viel Respekt vor der Schüleräußerung habe. Adultismus konsequent anzugehen hieße jedoch genau das: bedingungslosen Respekt, Gleichwürdigkeit, echte Partizipation und Heterogenität mit Wertschätzung zu begegnen. Das wiederum stärkt nachhaltig gelingende Beziehungen und damit auch die Gesundheit und das Wohlbefinden aller Beteiligten. Die Gewaltfreie Kommunikation, die Bücher von Jesper Juul und nicht zuletzt der Ansatz der Neuen Autorität haben mir praktische Hilfen und Reflexionsinstrumente geliefert, mich mit meinen adultistischen Haltungen, Denkmustern und Äußerungen auseinanderzusetzen. Zum Glück gibt es immer eine Situation nach der Situation und ich schaffe es immer häufiger innezuhalten.
In meiner neuen Onlinereihe „ Bindungsorientiert unterrichten“ zeige ich dir an 5 Abenden Möglichkeiten, um auf Augenhöhe in Beziehung zu treten!
In meinem nächsten Workshop zum Thema Unterrichtsstörungen am 23.3.21 zeige ich dir Möglichkeiten, wie du authentisch, respektvoll und klar reagieren kannst.