Ich erinnere mich noch daran, als wäre es gestern gewesen. Ich ging als 5jährige mit meiner Mutter in den Wald an einen Bach, wir warfen unsere Schuhe auf die andere Seite und unser Weg zurück führte nur übers Wasser. Wie aufregend, wie mutig, wie lebendig! Dieses Gefühl hatte ich immer dann, wenn ich einen Graben überquerte. Nach einem Moment des Zögerns der Sprung auf die andere Seite und dort schien es dann auf einmal ganz leicht.
In meiner frühen Jugend fand ich es mutig, ohne Hilfen über den Schwebebalken zu gehen (das habe ich bis heute noch nicht gemacht!) oder über den Bock zu springen (nachdem meine Sportlehrerin 6 Wochen lang äußerst geduldig wartete, bis der große Tag kam- jedes Jahr aufs Neue!). Es war für mich mutig, wenn ich etwas Kritisches im Unterricht äußerte, das davor auch andere im Stillen kritisierten, dann aber nichts mehr dazu sagten. Seitdem vergingen einige Jahre, in denen ich mich kaum mutig fühlte. Ganz im Gegenteil! Mir fallen Situationen ein, in denen ich so gern mutig gewesen wäre und es nicht sein konnte. Stattdessen habe ich etwas mitgetragen, was ich eigentlich abgelehnt habe oder konnte im entscheidenden Moment nicht laut genug „Nein!“ sagen und für die Werte einstehen, die mir wichtig sind. Damit einher ging letztlich auch ein Stück weit der Verlust meiner Integrität und meiner Autonomie. In solchen Momenten habe ich mich hilflos, ohnmächtig und traurig gefühlt. Oftmals war es meine Angst, dass mich „die anderen“ nicht mehr mögen. Und „die anderen“ dienten mir schließlich für mein Selbstwertgefühl und meine Wertschätzung als Hauptstrategie.
Vor 2 Wochen habe ich nun etwas getan, was in meinem Umfeld vor allem eine Reaktion hervorruft: „Wow! Wie mutig!“ Ich habe als verbeamtete Studienrätin auf Lebenszeit gekündigt. Seit 2 Wochen geht mir das Lied „Lass jetzt los!“ aus dem Film „Die Eiskönigin-völlig unverfroren!“ durch den Kopf. Elsa singt es, weil sie ihre magische Kraft nicht mehr unterdrückt, sondern ihr freien Lauf lässt und sie als Teil von sich versteht. Nicht dass ich ein Frozen-Fan bin, aber diese wenigen Zeilen erklingen in mir in Dauerschleife: „Ich bin frei, endlich frei und fühl‘ mich wie neu geboren. Ich bin frei, endlich frei, Was war ist jetzt vorbei!“ Auch wenn es bei Elsa um die Kälte und gerade das Nichtfühlen geht, so stimme ich zu, wenn sie singt: „Ich spüre diese Kraft und sie ist ein Teil von mir!“ Plötzlich erinnere ich mich wieder, dass ich schonmal als Lehrerin gekündigt habe. Schon während des damaligen Kündigungsgesprächs lächelte ich innerlich, auf der einstündigen Heimfahrt hörte ich laut Musik und fühlte mich lebendig, mit mir verbunden und frei. Damals gab es zwar keine Alternative und ich wechselte zunächst nur die Schule, aber ich fühlte eine enorme Stärke. Genauso fühle ich mich seit 2 Wochen. Ich fühle, wie kraftvoll es ist, eine Entscheidung aus freien Stücken zu treffen, Verantwortung zu übernehmen und ins Handeln zu kommen. Nicht mehr „Ich muss!“, sondern „Ich will!“ Auf einmal erlebe ich mich wieder selbstwirksam, integer und gleichzeitig leicht. Natürlich gebe ich eine riesige Sicherheit auf, ich hätte finanziell für den Rest meines Lebens super ausgesorgt. Aber was ist Sicherheit wert, wenn ich mehrheitlich unglücklich, ohnmächtig und traurig bin?
Damals im Wald am Bachufer habe ich nur einen Moment gezögert. Dieses Zögern hat bei meiner Kündigung mindestens 2 Jahre gedauert und es gab viele Kopf-in-den-Sand-Situationen, das andere Ufer schien so weit weg. Dann entstand eine Vision und plötzlich war das Ufer ganz nah, ich musste nur noch springen. Und nun stehe ich auf der anderen Seite und setze meine Vision in die Tat um. Ich kann in einem bewertungsfreien Raum Schule entwickeln und in Beziehung treten: authentisch, autonom und empathisch.
Es werden sicherlich Momente kommen, in denen ich zweifle und unsicher bin, in denen es nicht so läuft, wie ich mir das vorstelle. Vielleicht höre ich mir dann einfach „Lass jetzt los!“ an und erinnere mich daran, wie stark und glücklich ich mich fühle, weil ich meinen Weg integer und autonom gehe.
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