Stärke statt Macht – Die systemische Autorität

Stärke statt Macht – Die systemische Autorität

Ein systemischer Ansatz für gelingende Beziehungen in würdevollen Räumen und Handlungssicherheit

Ich erinnere mich noch sehr gut an meine erste Begegnung mit der Systemischen Autorität. Zum Fachtag des Vereins Ein Dach für alle e.V. Jena stellte Dennis Haase vom IF Weinheim das systemische Elterncoaching vor. Ich war gleichzeitig begeistert und doch galt irgendwie gemäß Bertolt Brecht: “De[r] Vorhang zu und alle Fragen offen.“ Mittlerweile bin ich Coachin für Neue Autorität (SyNA) und habe damit einen Ansatz gefunden, in dem ich Zuhause bin, mich privat und beruflich weiterentwickeln, für Werte, die mir wichtig sind, einstehen kann. Rückblickend lag die Irritation meiner ersten Begegnung nicht nur an der Kürze des Impulses, sondern auch daran, dass es Zeit für Entwicklung und Selbstreflexion brauchte, um die Haltungsaspekte, die dahinter stehen, zu verstehen.

Der systemische Ansatz der Neuen Autorität, der ursprünglich in hocheskalierten Familiensystemen von Haim Omer und Arist von Schlippe entwickelt wurde, kommt mittlerweile in allen Bereichen, in denen Menschen Verantwortung für die Entwicklung  und den Schutz von anderen Menschen tragen, zum Einsatz. Sowohl in Familien, Schulen, Kitas sowie in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, aber vor allem für Führungskräfte kann die systemische Autorität eine wunderbare Unterstützung sein, um auf der Grundlage humanistischer und systemischer Haltungen mithilfe unterschiedlicher Instrumente, die dem Gewaltlosen Widerstand entlehnt sind, die eigene Handlungssicherheit im jeweiligen Kontext zu stärken und verlässliche Beziehungen zu gestalten. Je nachdem, ob ausgehend von einem Coaching, einer Prozessbegleitung oder Fortbildung, können konkrete Instrumente eingesetzt oder Grundannahmen reflektiert werden, um wieder in Kontakt zu kommen, Beziehungen zu stärken sowie für Schutz von Werten, Personen oder Gegenständen zu sorgen.

Was heißt das konkret?

In den unterschiedlichen Kontexten kann es bedeuten, dass …

  • die Lehrkraft einer 8.Klasse, in der vor lauter Störungen, Beleidigungen und Grenzüberschreitungen kein Unterricht möglich scheint und schon alle Register gezogen wurden, gemeinsam mit Kolleg:innen Maßnahmen festlegt und ankündigt,
  • die Fachkraft in der vollstationären Wohngruppe, in der Bewohner:innen nicht zu abgemachten Zeiten zurückkehren, konkrete Maßnahmen zur Beziehungsstärkung und Erhöhung der Aufmerksamkeit ergreift,
  • das Elternteil in der Patchworkfamilie, in der Kinder und Erwachsene häufig streiten und Eltern Kontakt zu ihren Kindern verloren haben, sich selbst kontrollieren lernt, ohne in einen Machtkampf einzusteigen,
  • die Leitungskraft, die neu in der Führungsrolle ist und schwierige Entscheidungen lieber auf die lange Bank schiebt, um nicht unbeliebt zu sein, transparent und sicher handelt und schwierige Gespräche führen kann,
  • die pädagogische Fachkraft im Kindergarten, die bedürfnisorientiert arbeiten möchte und grenzüberschreitendes Verhalten beobachtet, dieses klar und sicher anzeigt, ohne selbst Grenzen zu überschreiten.

In meiner Rolle als Fortbildnerin, Prozessbegleiterin, Coachin und Mutter haben sich viele Veränderungen ergeben. Ich habe Glaubenssätze verworfen, mir dämonisierende Gedanken eingestanden und erkannt, wie sehr ich durch mein Verhalten dazu beitrage, wie Situationen sich entwickeln, ob Konflikte eskalieren. Oft stelle ich mir in Konflikten oder zur Vorbereitung von herausfordernden Gesprächen z.B. die Fragen: „Worum geht es mir eigentlich? Bin ich überzeugt von dem, was ich tue?“ Achtsamkeitsübungen und Strategien der Selbstfürsorge haben in meinen Alltag Einzug gehalten und ich kann mittlerweile viel sicherer Situationen bewältigen, in denen ich mich früher nicht getraut hätte, etwas anzusprechen oder die Initiative zu ergreifen. Ich habe an meiner Körpersprache gearbeitet und achte viel mehr darauf, welche Signale ich durch welches Verhalten sende. Auch kann ich aus dem „Teufelskreisverkehr“ (Danke für diese Wort, Haller) aussteigen, wenn ich mich z.B. destruktiv verhalte, weil ich müde oder überfordert bin.

Wichtige Haltungsaspekte

Eine wesentliche Grundannahme bildet z.B. die Illusion der Kontrolle. Dies bedeutet, dass ich mich davon lösen muss zu glauben, ich könnte als Elternteil meine Kinder, als Pädagog:in Heranwachsende oder als Führungskraft meine Mitarbeiter:innen in ihrem Verhalten kontrollieren oder gezielt beeinflussen. Der erzieherische Einsatz von Lob und Strafe widerspricht z.B. dieser Grundannahme. Als würde es nicht um Menschen, sondern um Objekte gehen, zu deren Handhabung und Lenkung gezielt Tools eingesetzt werden. Sicher kann es mal „funktionieren“, aber ich begegne den Menschen von oben herab und nicht gleichwürdig, denn letztlich handle ich manipulativ. „Ich lobe und strafe dich, damit du etwas anderes (nicht) mehr tust.“ Es geht also gar nicht wirklich um den anderen, dessen Wertschätzung oder die Wahrung von Grenzen. Gerade im Bildungskontext wird das Verb „funktionieren“ sehr häufig eingesetzt, um über Gruppen und Heranwachsende zu sprechen. Damit ist es letztlich auch Ausdruck einer adultistischen Sichtweise und entspricht eher der strafenden Pädagogik und alten Autorität. Dahinter steht möglicherweise eine dämonisierende Haltung, die von etwas Bösem oder Unfertigem in Kindern und Menschen ausgeht.

Ein wichtiger Haltungsaspekt besteht in der Annahme, dass hinter jeder Handlung eine „gute“ Absicht steht, also ein Bedürfnis, welches die Person sich durch das Verhalten zu erfüllen versucht. Damit finden sich wichtige Überschneidungspunkte mit der Gewaltfreien Kommunikation (GFK) nach M. Rosenberg. Den „guten“ Grund anzuerkennen heißt aber keinsfesfalls, mit dem Verhalten einverstanden zu sein. Wenn ich sehe, dass es einer Person um Anerkennung geht, sie aber, um diese zu bekommen, Grenzen anderer verletzt oder sich destruktiv verhält, dann kann ich mich mithilfe der Systemischen Autorität mit der Anerkennung verbinden und gleichzeitig meinen Widerstand gegen das verletzende Verhalten klar zum Ausdruck bringen.

Von Tools und Instrumenten

Bestimmte Instrumente wie die Wiedergutmachung oder die Ankündigung haben eine besondere Popularität erreicht und werden teilweise inflationär missbraucht. Bei der Ankündigung wird ein vorab verfasster Text vorgelesen, in dem kurz benannt wird, um welches Verhalten es geht, was die nächsten Schritte, Angebote oder Erwartungen sein werden. Die Ankündigung kann sehr wirksam, kraftvoll und berührend sein. Manchmal reicht die Zeit der gemeinsamen Formulierung, um wieder handlungssicherer zu werden. Doch wenn das Instrument aus dem gewaltlosen Widerstand ohne die entsprechende Haltung als Tool benutzt wird, dann kann es genau das Gegenteil bewirken, der Beziehung eher schaden und Machtmissbrauch fördern. Um dies zu verhindern, hilft die Frage nach der eigentlichen Absicht: Will ich jemanden strafen, beschämen und spüren lassen, dass er oder sie falsch ist oder geht es mir wirklich um Schutz und Sicherheit?

Wiedergutmachung löst manchmal Widerstand aus, denn destruktives Verhalten müsse doch mit Konsequenz bestraft werden. In der systemischen Autorität geht es um ein Sowohl-als-auch. Ich drücke sowohl deutlich meinen Protest gegen ein bestimmtes Verhalten aus und zeige Gesten der Beziehung, um eine Situation zu deeskalieren. Doch wenn ich Wiedergutmachung nur einseitig verstehe als eine erzwungene Entschuldigung oder lediglich die Ersatzleistung ( Kuchen, neuen Stift etc.) sehe, dann entspricht das wieder eher einer alten Autorität mit strafenden Gedanken bzw. der Idee, dem anderen zu zeigern, dass er/sie falsch ist.

Der nächste (noch so) kleine Schritt

Die systemische Autorität bietet keine großen Rezepte und Wunderlösungen an, sondern fragt ganz systemisch und konkret nach kleinen Schritten, nach eigenen Ressourcen und Ausnahmen. Es kann durchaus sein, dass der erste Schritt nicht sofort die gewünschte Veränderung bringt, aber das System kommt in Bewegung, wenn auch nicht vorhersehbar, wie genau. Manchmal gilt es auch erstmal, sich von bestimmten Gedanken oder Annahmen zu verabschieden, z.B. dass es Strafen braucht um zu erziehen, dass ein Machtkampf bis zu Ende ausgetragen werden sollte. Oder es bedarf die mitunter schmerzhafte Einsicht, dass ich selbst zur Eskalation beigetragen habe. Dann findet zunächst Selbstreflexion und innere Arbeit statt.

Das mag nun zunächst für Enttäuschung sorgen, gerade dann, wenn mein Handlungsdruck groß oder die Eskalation schon weit fortgeschritten ist. Also wieder keine schnelle Hilfe? Wieder mache ich selbst den ersten Schritt? Wieder anstrengende Selbstreflexion? Aus meiner Sicht kann es keine schnellen Rezeptlösungen geben, denn wir wollen als Menschen schließlich auch nicht mit einem Rezept behandelt werden. Wir wollen würdevolle Begegnungen erleben, in denen wir als Gegenüber ernstgenommen und respektiert werden. Das Prinzip der Reife, dass also Entwicklung verzögert stattfindet und Zeit und vor allem Respekt braucht, ist letztlich auch eine Grundannahme in der systemischen Autorität.

Gerade in Konflikten oder Situationen, in denen ich aufgrund meiner Rolle oder Aufgabe handeln müsste, mich aber hilflos erlebe oder Angst habe, Beziehungen zu schädigen, bleibe ich handlungssicher. Das bedeutet auch, immer wieder zu prüfen, inwiefern und wofür ich gerade Verantwortung trage, was meine Absicht ist und inwiefern ich überzeugt bin von dem, was ich gerade tue. Damit ist die systemische Autorität auch so leicht auf vielfältige Kontexte übertragbar, insofern bestimmte Werte die Haltung prägen.

Neu-systemisch-transformativ- Ein geliebter Ansatz hat viele Namen

Für den Ansatz existieren verschiedene Bezeichnungen, weil er sich beständig in Entwicklung findet und verschiedene Institute bzw. Autor:innen auch unterschiedliche Schwerpunkte setzen. Am populärsten ist im deutschsprachigen Raum die Bezeichnung Neue Autorität. Ich folge SyNA und versuche die Bezeichnung Systemische Autorität konsequenter zu benutzen. Es handelt sich im Wesentlichen um einen systemischen Ansatz und Neu ist irgendwann zeitlich gesehen relativ und außerdem zu konfrontativ-polarisierend.

Was mich begeistert

Die systemische Autorität ermöglicht es, wirklich nachhaltig Konflikte zu deeskalieren, bedürfnisorientiert zu begleiten und Beziehungen auf Augenhöhe zu pflegen. Letzteres mag ebenso populär klingen wie umstritten sein. Doch mithilfe der systemischen Autorität können Räume der Würde gestaltet werden, in denen die Würde und Bedürfnisse aller Beteiligten berücksichtigt werden, auch wenn nicht alle gleichberechtigt sind.

Dass es wirklich um sichere Beziehungen geht, empfinde ich als besonders heilsam und immer wieder großartig. Gleichzeitig ist es mit der systemischen Autorität möglich, klare Haltung gegen Gewalt und Machtmissbrauch zu zeigen, sich für Transparenz, Schutz und Autonomie einzusetzen. Das gilt auch für mein tägliches Arbeiten, wie du in der Selbstverpflichtung nachlesen kannst. Schließlich trägt die systemische Autorität durch und durch den Netzwerkgedanken. Nicht alleine bleiben zu müssen oder zu sein, ist gerade für Menschen, die sich als Einzelkämpfer:innen wahrnehmen, eine wichtige Erfahrung und ermöglicht es neue Potenziale auszuschöpfen.

Wenn du mehr darüber wissen möchtest, dich für eine Weiterbildung, Inhouseveranstaltung oder ein Coaching interessierst, dann melde dich über das Kontaktformular.

Veranstaltungen

Wertschätzende Leitung auf Augenhöhe- Neue Autorität in der Führungsrolle

Eine offene Weiterbildung für Kitaleitungen

Mit Stärke statt Macht deeskalieren

Eine offene Weiterleitung für pädagogische Fachkräfte

Authentisch, sicher und wertschätzend führen

Eine offene Weiterleitung für Leitungskräfte

Klassenführung auf Augenhöhe

Eine offene Weiterbildung für Lehrkräfte

Besonders empfehlenswert sind folgende Bücher:

Lemme, Körner (2023): Die Kraft der Präsenz

Omer, Alon, von Schlippe (2016): Feindbilder -Psychologie der Dämonisierung

Schiermeyer-Reichl (2020): Neue Autorität in der Grundschule

Geisbauer (2021): Führen mit Neuer Autorität