Pünktlich zum Jahreswechsel rückt nicht nur das Halbjahreszeugnis in den Blick der Lehrkräfte, sondern -zumindest in Thüringen- auch das anstehende Lernentwicklungsgespräch (LEG) eines jeden Lernenden bis einschließlich Klasse 9. An diesem Gespräch nehmen neben dem Lernenden mindestens eine sorgeberechtigte Person sowie in der Regel der Klassenlehrende teil. Ziel ist der Austausch über den Lernstand des Kindes auf der Grundlage einer Selbsteinschätzung sowie der gebündelten Fremdeinschätzung durch die Lehrkraft. Es wird mindestens eine Zielstellung formuliert, die dann wiederum zum Schuljahresende oder spätestens zum nächsten LEG evaluiert wird.
Nun kann man zunächst einmal wertschätzend bemerken, dass es doch mehr als fortschrittlich ist, dass es neben dem Ziffernzeugnis in der Regelschule[1] sogar ein gesetzlich verankertes individuelles Beratungsgespräch gibt, in dem die Selbstkompetenz der Lernenden in mehrfacher Hinsicht gefördert wird und der Lernprozess so langfristig und nachhaltig in den Blick genommen wird.
Oder man macht ein kleines Unterhaltungsexperiment und erwähnt das Wort LEG bei den Beteiligten. Als Reaktion erhält man mit ziemlicher Sicherheit eine breite Palette von eher negativen Gefühlen in Mimik und Äußerungen. Das Gespräch ist für alle in mehrfacher Hinsicht eine Herausforderung, mitunter sogar eher eine Farce. Woran liegt das genau?
Einmal 30 Zeitfenster, bitte!
Für Lehrkräfte beginnt die Herausforderung bereits mehrere Wochen vorher. Jede Schule hat eigene Regelungen und Gestaltungsmöglichkeiten, die auch voll ausgeschöpft werden, wenn es keine klaren Festlegungen durch die Schulleitung gibt. Das beginnt bereits mit der Aufteilung der Gespräche. Je nachdem, ob das Klassenleitungsteam auch tatsächlich als ein solches funktioniert, wird die Klasse wahlweise geteilt oder aber eine Person übernimmt einen Großteil, mitunter sogar alle Gespräche. Zwar sollen Lehramtsanwärter:innen das Gespräch zumindest nicht alleine führen, nicht selten werden sie in die Durchführung aktiv mit einbezogen und führen auch schonmal die Hälfte durch („Sie müssen das ja schließlich auch mal lernen!“). Bei einer Klassenstärke von mehr als 20 -30 Lernenden bedeutet dies, dass ich neben meinem Stundendeputat, Unterrichtsvor- und Nachbereitungen, Sitzungen und Korrekturen zusätzlich 20-30 Termine einplanen muss. Während sich eine Lehrkraft 1 Zeitstunde pro Kind teilnimmt, plant eine andere Lehrperson im sportlichen 20 Minuten-Takt. Hinzu kommt die Herausforderung, angemessene und sinnvolle Zeitfenster im Wochenplan zu finden, in denen alle Beteiligten Zeit haben. Schließlich- und ich bin immer noch bei der organisatorischen Herausforderung- gibt es vielfältige Möglichkeiten, die Termine zu verabreden. Ich kann eine Liste mit Wahlterminen erstellen, eine Umfrage durchführen, Termine über das Hausaufgabenheft zuweisen etc.
Mir reichen ein paar Stichpunkte zu jedem
Neben der Terminplanung steht nun noch die inhaltliche Vorbereitung an, die deutlich zeitintensiver ist. Um eine begründete Fremdeinschätzung zu vermitteln, erbitten die meisten Klassenleitungen bei den jeweiligen Fachlehrer:innen Rückmeldungen. Auch hier ist der Kreativität keine Grenze gesetzt: Sei es eine Liste als Aushang im Lehrerzimmer (Datenschu… was?), als Tabelle mit Spalten im Fach, nettes Anschreiben mit Bitte um schriftliche Zuarbeit bis Tag XY oder in Form einer Einladung zur Klassenkonferenz. Um eine professionelle und auf den Lernprozess gerichtete Fremdevaluation abzugeben, braucht es eine ausgebildete Diagnosekompetenz und ausreichend Möglichkeiten, den Lernprozess eines jeden Kindes über einen längeren Zeitraum zu beobachten und in einem regelmäßigen Austausch mit anderen Pädagog:innen auszuwerten. Auch an dieser Stelle lohnt sich ein Multiperspektivwechsel: Da sind die Kolleg:innen mit Einstundenfächern, die als Klassenlehrer:innen auf die Rückmeldungen ihrer Kolleg:innen aus den Mehrstundenfächern für eine fundierte Aussage angewiesen sind. Gleichzeitig können sie selbst nicht zu allen Lernenden in den Klassen differenzierte Aussagen treffen. Manche Lehrenden unterrichten jede Klasse einer Schule einmal pro Woche. Ein Feedback zu über 300 Schüler:innen ist da doch nicht zu viel verlangt, oder?
In Benehmen eine 2
Ich habe verschiedene Rückmeldeverfahren ausprobiert. Bei der Bitte um Zuarbeit konnte ich mich freuen, wenn ich zu jedem Lernenden mehr als einen Hinweis erhielt. Die Zuarbeiten fielen dann teilweise so aussagekräftig wie Ziffernnoten aus: „i.O., in Benehmen eine 2, war mal besser “. Wenn ich zu einer Klassenkonferenz lud (wie 18 andere Klassenlehrer:innen auch), dann konnte ich froh sein, wenn eine Handvoll Kolleg:innen teilnehmen konnte („Ich habe gleich noch Aufsicht/Vertretung/ eine andere Klassenkonferenz/einen Arzttermin- wie lange dauert es denn?“). Ich saß auch schon mit lediglich 2 anderen Lehrkräften zusammen. Schließlich wird auf den Klassenkonferenzen nicht über jeden Lernenden gesprochen, sondern über die „Problemfälle, Nervensägen und Störenfriede“. Da fallen eine ganze Menge an Kindern hinten runter. Wo kommen wir denn hin, wenn wir uns zu jedem Lernenden austauschen? Dann kann ich ja gleich in der Schule übernachten!
Ein ganzheitlicher und wertschätzender Blick auf jedes einzelne Kind ist strukturell und organisatorisch nicht möglich und so auch nicht unbedingt im Werteverständnis vorgesehen. Wenn in der Leistungsbeurteilung immer noch eine Defizitkultur mittels Rotstift dominiert, dann führt dies auch in der Vorbereitung der LEG dazu, den Fokus auf Mängel zu legen, vorschnell zu bewerten, was fehlt oder sich in Notensprache zu äußern.
Wenn da nicht die Eltern wären…
Wenn ich dann als Lehrkraft also nach mehreren Wochen alle Termine und den ein oder anderen Hinweis gesammelt habe, stehen letztlich die Gespräche an. Sie stellen zwar eine wunderbare Möglichkeit dar, mit den Lernenden individuell zu sprechen, sich mit den Eltern auszutauschen, aber genau darin liegt die nächste Herausforderung: Lehrkräfte sind keine ausgebildeten Berater:innen. Neben der Gesprächsvorbereitung (Gestaltung einer Atmosphäre im Raum, Gesprächsstruktur etc.), verlangt es diverse Gesprächs- und Beratungskompetenzen, die leider immer noch nicht ausreichend Teil der Ausbildung sind. Wie reagiere ich bei schwierigen Gesprächsverläufen, Provokationen, wann breche ich ab, welche Interventionen sind hilfreich? Gerade bei LEG sehe ich zum Beispiel darin die Herausforderung, dass der Fokus auf dem Kind liegt, dass mit ihm und nicht über das Kind gesprochen wird. Wie gehe ich mit Eltern um, die eigentlich ihre eigenen Sorgen besprechen wollen? Die gerade sich bei der Gelegenheit auch gleich nochmal über die Kollegin Müller beschweren wollen? Die mit der Rückmeldung durch die Lehrkraft entweder nicht mitgehen können oder es als Anlass nehmen, ihrem Kind einmal zu zeigen, wo der Hase lang läuft?
Ich erinnere mich an ein Gespräch, in dem ich dem Kind eine positive Entwicklung schilderte. Als es um die zögerliche Mitarbeit ging, brach aus dem Vater ein Gewitter hervor. Er demütigte seinen Sohn, beschimpfte und verurteilte ihn und ich saß daneben, ohnmächtig und mitleidend. Diesen Verlauf und meine Hilflosigkeit bedaure ich bis heute. Es wäre meine Aufgabe gewesen, ein klares Stopp zu setzen und den Jungen zu stärken.
Im Anschluss an das Gespräch sollte im besten Fall noch eine Dokumentation erfolgen, um Informationen weiter zu geben, um im Unterrichtsgeschehen und in Folgegesprächen daran anknüpfen zu können. Ich traue mich kaum, die Zeitrechnung pro Gespräch abschließend durchzuführen. Selbst wenn ich minimalen Aufwand betreibe, dann bedarf es mind. 2 Zeitstunden pro Gespräch, optimistisch gerechnet.
Be smart!
Womöglich begebe ich mich mit folgendem Gedanken auf Glatteis, aber ich möchte aus Sicht der Lehrkräfte noch einen letzten Aspekt aufwerfen: Die Lernenden sollen in den Gesprächen lernen, sich eigenständig terminierte, sinnvolle, erreichbare, messbare und positive Ziele zu setzen. (So manches Mal lauten diese dann „Ich will weniger quatschen/mehr aufpassen/Meine Noten in Sport, Mathe und Deutsch verbessern.“) Sich selbst Ziele zu setzen, die man als wirklich relevant erachtet, ist schon schwierig genug zu lernen, vor allem wenn dies im Regelunterricht meist gar nicht stattfindet, geschweige denn evaluiert wird. Das Vorgehen der LEG erinnert an Mitarbeitergespräche in Unternehmen und Organisationen und ist damit wiederum in Bezug auf die Arbeitswelt besonders interessant. Bei der kompetenzorientierten Personalentwicklung finden halbjährlich bis jährlich mit den Mitarbeitenden Gespräche statt, in denen Ziele evaluiert und neu formuliert werden. Und nun Achtung, Rutschgefahr: Wie ist das eigentlich bei Lehrkräften? Wie können sie Lernende darin begleiten, sich Ziele zu setzen, wenn sie selbst höchstens zur Beurteilung eine nicht transparente Rückmeldung erhalten, in ihrer eigenen Entwicklung aber kaum durch Evaluationen und persönlich relevante Ziele begleitet werden?
War da nicht noch wer?
Nach dieser Vielzahl an Herausforderungen auf Seiten der Lehrkräfte bin ich noch nicht einmal auf die der Kinder und Eltern eingegangen, die ich hier wenigstens noch verkürzt erwähnen möchte: So sehr in den LEG das Potenzial liegt, das lebenslange und eigenverantwortliche Lernen zu schulen, so sind gerade die Fähigkeit der Selbsteinschätzung, die Reflexion von Lernprozessen und die bereits erwähnte Aufstellung smarter Ziele über einen langen Zeitraum und regelmäßig im Unterricht zu üben. Die Gespräche lösen in Kindern häufig Ängste und Sorgen aus, denn es fehlt die Sicherheit bzw. das Vertrauen, dass es sich um einen benotungsfreien Raum handelt. Kann es etwas Falsches sagen, wird ihm danach ein Strick daraus gedreht oder folgen Zuhause härtere Konsequenzen? Gegebenenfalls stehen die Kinder dem Gespräch aber auch gleichgültig gegenüber, gerade weil kaum Konsequenzen für das eigene Lernen folgen. Ist es ein persönlich relevantes, vom Kind selbst formuliertes Ziel oder eines, das Lehrkraft und/ oder Eltern gerne hören möchten? Wie komme ich zu diesem Ziel und wie kann ich es erreichen und überprüfen, um mich als selbstwirksam zu erleben?
Für Eltern sind die Gespräche teilweise ebenfalls sehr aufregend und das nicht nur wegen ungünstiger Terminlage. Da gilt es im schlimmsten Fall in die Schule zu gehen, die vielleicht vor Jahren traumatisiert verlassen wurde. Vielleicht sind sie besorgt, dass ihr Kind aneckt, auffällt oder abrutscht und sie möchten als fürsorgliche Eltern wahrgenommen werden und ihren Aufgaben nachkommen. Als Sorgeberechtigte müssen sie ihre eigenen Erwartungen teilweise zurücknehmen, zuhören und den Fokus auf das Kind setzen. Wie gehe ich damit um, wenn mir ein Kind geschildert wird, dass Zuhause das komplette Gegenteil ist?
Und nun? Die Lernentwicklungsgespräche abschaffen? Auf keinen Fall! Es gibt viele Anknüpfungspunkte, um die Chance zu nutzen, diese individuellen Beratungsgespräche für alle gewinnbringend und nachhaltig zu gestalten. Dabei kann die Gewaltfreie Kommunikation eine praktische Orientierungshilfe sein: Wie gestalte ich die Gespräche empathisch? Wie komme ich aus der Bewertung in die Beobachtung? Wie formuliere ich smarte Ziele? Wie gebe ich wertschätzende Rückmeldung hin zum Potenzialblick? Wie gehe ich als Lehrkraft mit den Herausforderungen selbstfürsorglich um?
In meiner aktuellen Workshopreihe zeige ich Möglichkeiten auf: „Was soll denn das!“ – Onlinereihe zum wertschätzenden Miteinander im Schulalltag (am 2.2. geht es direkt um LEG!)
[1] in Abgrenzung zu einer Ersatzschule